Das Chaos im Kopf von Rudi Dutschke
28. Jan 2005 07:13
Fritz J. Raddatz
Foto Bettina Röhl
Fritz J. Raddatz war der Verleger der 68er. Bettina Röhl sprach mit ihm über Kunst, Macht und das geistige Klima, aus dem einst die RAF entstand.
Netzeitung: Sie haben Elfriede Jelinek in den sechziger Jahren als damaliger Programmleiter und Cheflektor von Rowohlt entdeckt. Hätten Sie Frau Jelinek den Literaturnobelpreis verliehen?
Raddatz: Da bin ich unsicher. Ich fand die frühen Arbeiten von ihr interessanter als die späteren, was das Literarische betrifft. Ich finde ihre Zerhackmethode der Sprache inzwischen eher fragwürdig. Ihre politischen Aktivitäten und politischen Interventionen finde ich völlig in Ordnung, die würde ich alle mit unterschreiben, mittragen, mit verlegen, was Sie wollen. Aber die literarische Methode scheint sich sehr verselbständigt zu haben, so dass ich damit inzwischen – obwohl Mitentdecker der Dame – größere Schwierigkeiten habe.
Sie sagt ja selber von sich: Ja, ich mache Sprache kaputt, ich schreibe eigentlich gar nicht, ich zitiere nur und zerstöre Sprachgebäude. Das stört mich enorm, und ich war bei manchen Theaterabenden sehr unglücklich darüber, weil ich dachte, also nur zitieren und schreiben, was in der Kronenzeitung stand oder was ein Polizist gesagt hat usw. – das ist alleine noch kein Corpus eines Kunstwerkes.
Netzeitung: Wie haben Sie Frau Jelinek kennen gelernt und entdeckt?
Raddatz: Anfang der Sechziger hatten wir beide, Ledig-Rowohlt und ich, plötzlich einen gewissen Österreich-Tick entwickelt. Damals explodierte vor allem in Wien ein junger, verrückter Geniekult, eine ganz spezielle Kultur, und wir begaben uns öfter dahin, um diese frischen, neuen Talente kennen zu lernen. Es war also nicht so, dass ein Zufall namens Pinzette sich die Jelinek rausgeangelt hat. Damals sind auch das erste Buch von der Friederike Mayröcker oder Konrad Bayer bei Rowohlt erschienen, sowie 1967 der Band von Gerhard Rühm «Die Wiener Gruppe».
Netzeitung: Hatten Sie andere Favoriten für den Literaturnobelpreis?
Raddatz: Ich hätte mich sehr gefreut, wenn zum Beispiel Philip Roth, um mal außerhalb der Landesgrenzen zu gehen, oder John Updike den Literaturnobelpreis gekriegt hätten. Die beiden schätze ich besonders und kenne ihr Werk genau. Ich habe übrigens auch Philip Roth für den deutschen Leser entdeckt und die ersten Bücher von ihm bei Rowohlt verlegt. Also das scheint mir ein stärkerer Corpus eines Werkes zu sein, als der von Frau Jelinek.
Netzeitung: Sie haben in Ihrer Zeit als Lektor in Ostberlin Berühmtheiten wie Ernst Busch, Hanns Eisler, Bertolt Brecht, Wieland Herzfelde und Anna Seghers kennen gelernt. Sie stehen mit ihren künstlerischen Werken bis heute für die deutsche kommunistische Bewegung. Sie machten wichtige Musik, schrieben Gedichte und Theaterstücke. Hanns Eisler komponierte die Nationalhymne der DDR und reüssierte sogar in Hollywood. Wie waren diese Leute, die nach dem Krieg aus der Emigration in die DDR zurückgekehrt waren?
Raddatz: Gebrochen. Die Stimmung dieser Leute war gebrochen. Sie haben Recht, es war ein großes Privileg und ein großer Zufall und ein großer Vorteil – dass ich mit 18, 19 Jahren all diese Leute kennen lernen durfte und dass ich so schnell, einen Hanns Eisler oder einen Bertolt Brecht oder eine Anna Seghers, um mal die Big Names zu nennen, kennen lernte. Aber sie waren auch gebrochen und ich muss dies trotz der schönsten Abende sagen, die ich damals mit diesen Leuten verbracht habe. Trotz der Zaubernächte mit Hanns Eisler, an die ich mich heute noch erinnere, weil ich ihn sehr verehrt habe, weil er auch geradezu herausragend gebildet war.
Gebrochen meint, dass sie sich alle gedrückt haben vor dem Problem Stalinismus. Vor dem Problem, dass man ihre eigenen Freunde und Genossen zum Teil in der Sowjetunion umgebracht hatte und dass dies sogar während des Slansky-Prozesses in Prag weiter passierte, als sie also schon wieder in der DDR waren. Mit «gebrochen» meine ich, dass sie eigentlich ein Stück Lüge gelebt haben. Und ich werfe ihnen allen bei großer Verehrung und Zustimmung doch vor, dass sie uns Jüngeren nicht auch nur mit einem Augenzwinkern von Stalins Verbrechen erzählt haben.
Die haben davon einfach nicht geredet, und wenn Ernst Busch vom Spanienkrieg sprach oder Alfred Kantorowicz, um mal zwei Spanienkämpfer zu nennen, dann haben sie uns nicht gesagt, was die Stalinschen Horden, die GPU hieß das damals, mit den Anarchisten gemacht haben und dass sie auch in Spanien schon gemordet haben. Sie haben einen ganzen Komplex an Schuld, den der Kommunismus, der praktizierte Kommunismus, will sagen, der Stalinismus auf sich geladen hatte, ausgespart und damals sogar noch Stalinhymnen oder Stalingedichte geschrieben.
Und das zu einer Zeit, wo sie von all dem, den Ermordungen und Verbrechen, die unter Stalin begangen wurden, natürlich wussten, vor allem die Westemigranten. Mag sein, dass ein Johannes R. Becher weniger wusste, weil er in Moskau gesessen hatte und natürlich nur ein gefiltertes Informationssystem hatte. Aber in den USA, wo Bertolt Brecht oder in Zürich, wo Hans Mayer gewesen waren, wusste man das, da konnten sie die «New York Times», «Le Monde», oder die «Neue Zürcher Zeitung» lesen oder die Bücher von Ignazio Silone oder von Arthur Koestler und sich damit auseinander setzen. Und das ist ein ganz großes Problem, dem ich in einer Art Politethnographie versucht habe nachzugehen. In großen Interviews also mit Stefan Heym, George Semprun, mit Jorge Armado, mit Louis Aragon, also auch international.
Ich habe da immer wieder nachgefragt, woher kam dieses Loch bei Euch, warum habt Ihr das eingekapselt, wie ein Tuberkel in Eurer eigenen Vita, in Eurer eigenen Moralität, und warum habt Ihr den Jüngeren das verschwiegen? Es wäre ihre Pflicht gewesen, als unsere Maîtres penseurs, unsere Lehrer, sich nun nicht gerade mit der Flüstertüte auf die Berolina-Säule auf dem Alexanderplatz zu stellen – das wäre wohl schlecht gegangen – aber doch, ob in einer Vorlesung oder in einem Essay oder in einem abendlichen Gespräch auf diese Problematik einzugehen. Das hat keiner von ihnen gemacht. Deshalb mein Wort: Gebrochen.
Netzeitung: 1969 begannen Sie mit Ihrer ersten Biographie über Karl Marx – warum gerade Marx? Suchten Sie die Wurzeln des Kommunismus? Gab es ein Bedürfnis, sich mit der Sowjetunion und der kommunistischen Ideologie, vor der Sie selber geflüchtet waren, auseinander zu setzen?
Raddatz: Für mich war das Schreiben der Marx-Biographie auch eine Auseinandersetzung mit mir selber, mit meinem Konzept «ja oder nein zum Marxismus». Die ökonomische Analyse halte ich bis heute für wichtig und richtig am Marxismus – das Wort Globalisierung fällt bereits bei Marx – in diesem Fall ist Marx bis heute aktuell oder zumindest bedenkenswert. Falsch bis gefährlich ist bei Marx das Menschenbild, die Anthropologie, die Idee, ich bin sozusagen der Führer, der Euch in ein Paradies führen wird, und wenn Ihr meinem Weg nicht folgt, schlage ich Euch mindestens auf den Kopf, wenn nicht den Kopf gar ab.
Netzeitung: Waren Sie Marxist?
Raddatz: Marxismus klingt schon zu sehr nach Ideologie, und Ideologie ist mir fremd. Ich bin und war kein Ideologe. Ich habe mal ein Buch herausgegeben, was die meisten eben nicht gelesen haben und deswegen immer die falsche Frage stellen. Das Buch heißt: «Warum ich Marxist bin». Da habe ich viele Leute, Künstler, Schriftsteller, Publizisten befragt – unter anderem Rudi Dutschke, Franz Xaver Kroetz und viele andere.
Und viele, die das Buch nicht kennen, sagen dann: Sie haben doch ein Buch geschrieben mit dem Titel: «Warum ich Marxist bin», und ich erkläre dann, dass ich dieses Buch nur herausgegeben habe, und dass der einleitende Aufsatz zu diesem Buch gerade darlegt, warum ich nicht Marxist bin - das ist schon eine Volte in sich selber. Ich bin allerdings, und da klaue ich jetzt ein Wort von Tucholsky, der hat sich mal so genannt, und so würde ich mich auch nennen: ein Anti-Antikommunist.
Netzeitung: Wenn Sie also damals mitnichten Kommunist waren - welche Art von Linkssein war es damals überhaupt, zu dem Raddatz, aber auch viele andere, die wie Sie gut lebten, sich bekannten. Sie fuhren Porsche, bevorzugten die feinen Restaurants, wohnten in Hamburg am Alsterlauf und liebten Kaschmir und Maßanzüge. Diese Privilegien genießend nannten Sie sich Anti-Antikommunist.
Raddatz: Es war damals ein ganz ungeprüftes links. Bedenken Sie, dass selbst ein Mann wie Gerd Bucerius – im landläufigen Sinne gewiss nicht «links» – damals den «Club Voltaire», also den Sammelpunkt der Linken, finanziell unterstützte. Links zu sein war auch damals schon ein bisschen schick, ähnlich auch wie bei Ihren beiden Eltern Klaus Rainer Röhl und Ulrike Meinhof – mit schlimmen Konsequenzen zumindest was Ihre Mutter betrifft. Dieses Linkssein war damals sehr vage, es war eine Sache, die man gar nicht hätte definieren können.
Wenn man damals denjenigen gefragt hätte, warum bist Du links, und was hast Du gelesen, und hast Du Dich eigentlich schon mal mit Rosa Luxemburg auseinander gesetzt, um mal nicht immer nur Marx zu nehmen, oder hast Du mal Trotzki gelesen, dann wäre da nichts gekommen. Die meisten hatten gar nichts oder kaum etwas gelesen. Obwohl man sich die Bücher in dieser Zeit nicht zuletzt auch aus der DDR hätte besorgen können.
Netzeitung: In der linken Öffentlichkeit wurden damals Mao und teilweise sogar Pol Pot und zumindest mittelbar die Sowjetunion und die DDR verklärt dargestellt und geradezu glorifiziert – und dies unter gezielter Vermeidung, wie Sie schon sagten, der Thematisierung der vielen Millionen Mordopfer dieser Idole.
Raddatz: Es kippte dann um, und das war eben der Fehler auch der ganzen 68er–Geschichte, da wurde dann, wie ich es gern sage, in Schnellkochkursen Antifaschismus beigebracht und auch ein bisschen Marxismus. Ich weiß noch, wie Rudi Dutschke, der ja in Wahrheit am Anfang keine Ahnung hatte, sich das alles in den Nächten anlas wie ein Wahnsinniger, um sich schnell alles reinzuziehen, aber das war zum Schluss wie ein umgekippter Papierkorb in seinem Kopf, und genauso war es mit Cohn-Bendit und mit vielen anderen.
Netzeitung: Sie sind als Cheflektor bei Rowohlt mit der rororo-aktuell-Reihe im Grunde der 68er-Verleger schlechthin gewesen. Die 68er-Bewegung haben Sie von Ihrem Platz bei Rowohlt ganz aktuell mit erlebt und mit gemacht. Ohne Sie wären viele Bücher möglicherweise nie gedruckt worden, die Stimmen bestimmter Leute hätten vielleicht kein Forum bekommen. Wie haben Sie diese Leute erlebt?
Raddatz: Wie gesagt, in Rudi Dutschkes Kopf ging alles durcheinander, ein bisschen Rosa Luxemburg, ein bisschen Trotzki, ein bisschen Marx...
Netzeitung: Sie hatten damals bereits vor, Ihre Biographie über Karl Marx zu schreiben.
Raddatz: Jedenfalls hatte ich ihn gelesen, ja.
Netzeitung: Sie waren gebildet, das kann man sicher von Cohn-Bendit so nicht sagen.
Raddatz: Nein.
Netzeitung: Auch von Rudi Dutschke würden Sie das nicht sagen.
Raddatz: Nein.
Netzeitung: Wie haben Sie diese Leute erlebt, die plötzlich medienpolitisch in der Studentenbewegung eine ungeheure Rolle spielten, auf der anderen Seite bildungsmäßig in den Kindergarten gingen, aber zugleich geistige Führung reklamierten und fürstliche Tantiemen kassierten?
Raddatz: Ich fand den antibürgerlichen Impuls richtig und habe deshalb mit vollem Bewusstsein und mit großem Applaus und dann auch noch, und das hilft ja immer, gigantischem Erfolg, diese Bücher verlegt. Denn all diese Bücher wurden im Verlag gar nicht so gerne gesehen, denn Rowohlt war ja keine KP-Zelle und auch keine Kommune, sondern ein Herrenclub von lauter konservativen, oft reaktionären Leuten, so jedenfalls war die Geschäftsführung. Nur Ledig-Rowohlt gefiel alles, was ich jetzt sage: die Lust am Skandal, die Lust an der Anti-Bürgerlichkeit.
Wir, Ledig-Rowohlt und ich, waren da beide in einem Boot und hatten große Widerstände im Haus. Später drehte es sich, und dann wurde es selbst auch Ledig zuviel. Ich ging damals so weit, rote Buchhandlungen zu unterstützen und denen zu Sonderrabatten diese Bücher zu liefern, was man nicht darf, was gegen die Preisbindung verstieß und so weiter. Da war zum Beispiel auch dieses sehr wichtige Buch gegen den Schah von dem persischen Schriftsteller Bahman Niroumand, das ich 1967 verlegte.
Netzeitung: Das Persienbuch von Niroumand «Modell eines Entwicklungslandes», das zu einem Mitauslöser der Anti-Schah-Demonstration vom 2. Juni 1967 wurde, auf der Benno Ohnesorg erschossen wurde.
Raddatz: Ich erinnere noch genau, dass in diesem Buchmanuskript, das ich dann verlegte, sogar zum Mord am Schah aufgerufen wurde und ich zu unserem Justiziar bei Rowohlt ging und ihn fragte: Darf das sein? Geht das? Und es ging nicht. Dieses Buch war damals für die Studenten ganz wichtig. Heute kann man wieder sagen, mein Gott, der Schah war gar nicht so schlimm im Vergleich zu denen, die heute da sind, aber das ist ein anderes Kapitel. Nur war meine persönliche Situation immer etwas schizophren und auch durchaus kritisierbar, denn ich stand ja neben den Demonstrationen.
Netzeitung: Sie gehörten zum Establishment und besuchten die entsprechenden Partys. Nicht gerade der klassische Genosse.
Raddatz: Ja, so ist es. Ich war weder vom Outfit her noch in meiner Lebensweise noch in meiner Lebensart der klassische 68er-Genosse. Ich war der Establishment-Mann und wurde natürlich von denen auch benutzt. Die sahen mich durchaus, wenn mich vielleicht einige auch sympathisch fanden, nach dem Leninschen Wort als einen nützlichen Idioten. Sie sahen mich als denjenigen, der ihnen die Spielwiese, diese Plattform, wo sie publizieren konnten, bot. Mir war das recht.
Nur war ich nie jemand, der gern zu Demonstrationen ging. Ich weiß noch, wie ich einmal mit meiner damaligen Geliebten zu einer Anti-Springer-Demonstration in Hamburg ging, und da habe ich ihr vorher einen Trenchcoat mit Fell gefüttert gekauft – gegen die Wasserwerfer, das war so eine typische Unlogik beziehungsweise Absurdität des Herrn Raddatz. Und dann haben wir vorher in der Bar des Hotel Vier Jahreszeiten eine Bloody Mary getrunken, bevor wir zur Demo gingen.
Netzeitung: Wir hatten ja vorhin über die Künstler der alten DDR und ihre Beziehung zu Stalin gesprochen, und dann muss man ja bei den 68ern auch über deren Verhältnis zu Mao Tse-tung sprechen.
Raddatz: Ganz klar, und auch über Kuba und Fidel Castro.
Netzeitung: Viele 68er nehmen bis heute ungeniert das Wort «Kulturrevolution» in den Mund. Ein heute gewendeter 68er, nämlich Peter Schneider, erlebte irgendwann in den achtziger Jahren einen Schock in China, als ihm die Chinesen vorsichtig erklärten, dass Mao für sie eine ähnliche Größe sei wie für uns Hitler, und dass die Kulturrevolution Massenmord, Massenverschleppung und so weiter bedeutet habe. Mao und Fidel Castro wurden von den 68ern verehrt, und diese Liebe wurde zum Teil durchaus konkret. Heute redet keiner mehr gern darüber, niemand hat angeblich Mao gelesen.
Raddatz: Ganz klar, nur das kleine rote Buch geschwenkt, ja ja. Es ist gar keine Frage, dass Mao, Stalin und Hitler die drei großen Mörder der Geschichte sind und Verbrecher waren und man sich auf die besser nicht bezogen hätte und nicht berufen hätte sollen. Nun, es gab diese seltsame Welle, die dann von Hans Magnus Enzensberger bis etwa zu Gabriel García Márquez ging, die zu Castro nach Kuba fuhren, da große Feste feierten und propagierten, dies sei das befreite neue Land, bis sie merkten, dass das nicht so ist.
Ich sage, dass ich den Impetus der 68er richtig fand. Dass ich es richtig fand und heute noch finde, diese Bücher verlegt zu haben, dass ich dann das Umkippen vieler, es sind ja gar nicht so viele, in den Terrorismus – und da ist für mich die Grenze – natürlich kritisch gesehen habe. Das haben aber die, über die wir jetzt gesprochen haben, also Dutschke, Amendt, Cohn-Bendit, Karl Heinz Roth, oder Bahman Niroumand nicht gemacht, also das Abdriften, da kommen wir in eine andere Personengruppe, in eine andere Randgruppe.
Netzeitung: Mein Eindruck ist, dass Sie die 68er-Bewegung eher von der Seite des Künstlers und des Rebellen aus betrachtet, begleitet und die entsprechenden Bücher verlegt haben.
Raddatz: Also, ich bin ja in erster Linie Literat. Durchaus ein politisch denkender und urteilender Literat und komme natürlich in erster Linie von der Literatur, da haben Sie Recht. Ich bin der Auffassung, dass Literatur immer über die Grenzen gehen muss und da, wo sie wichtig wurde, immer über die Grenzen gegangen ist, ob es Anstand betraf oder Moral oder politisches Denken. Ich habe mir für unser Gespräch einen sehr schönen Satz aufgeschrieben, er ist von Degas: Ein Bild muss mit demselben Gefühl gemacht werden, mit dem ein Verbrecher seine Tat ausführt.
Nun können Sie für Bild auch Buch einsetzen. Und mit solchen Zitaten könnte ich Sie jetzt erschlagen. Deshalb finde ich so vieles langweilig, was man heute im Feuilleton liest. Wenn Sie daran denken, was Thomas Bernhard für Schimpfkanonaden losgelassen hat, zum Beispiel über Heidegger – das ist von einer hasserfüllten Aggressivität. Ich bin von so was ernährt, sei es Majakowski, Thomas Bernhard oder Degas oder sei es Dostojewski, der einen Mord schildert, das war ja auch keine Konfektschachtel, die er da verteilt hat. Diese Leute wie Dutschke und Cohn-Bendit – die 68er eben –, die waren wie eine Welle, die reinbrauste und die Türen und auch manchmal die Mauern sprengte.
Und ohne diese politische Couleur war ja diese Gruppe in Wien, von der wir eingangs sprachen, genauso. Das war ein Haufen Irrer, die wie die Wahnsinnigen dort in Wien lebten, so dass, wenn die hier her kamen, selbst Ledig, der das gerne mochte, manchmal Angst kriegte, besonders, wenn es zu viele waren und die seine Picasso-Vasen durch die Gegend warfen und sagten: guckt Euch mal den komischen Kitsch an, der hier rumsteht! Und so ein Ding kostete damals, glaube ich, 20.000 Dollar.
Netzeitung: So waren die drauf?
Raddatz: Ja, ja, das habe ich selber gesehen. Konrad Bayer ist ein gutes Beispiel für das, was ich Grenzwanderung nenne, aber doch auch sehr beeindruckend finde. Konrad Bayer war zusammen mit Artmann ja eines der wichtigen Häupter dieser Gruppe und hat über Jahre russisches Roulette gespielt, nämlich mehrere Male Selbstmord zu machen versucht und gesagt: geht’s, geht’s – geht’s nicht, geht’s nicht. Also schließlich hat es geklappt, und er hat seinen Kopf in den Gasofen gelegt und war tot. Und daraufhin gab es in dieser Wiener Klicke eine große, lustige, besoffene Feier.
Es ging immer darum, die Grenze des Tradierten zu überschreiten. Wir sind zu dieser Beerdigung gegangen und haben im Prater Papierblumen geschossen für das Grab von dem Mann, der sich nun aber wirklich umgebracht hatte. Ich will denen jetzt nichts Politisches aufbürden – sondern das ist wie bei Dostojewski oder Degas: Man muss die Emphase eines Verbrechers haben, um ein großes Kunstwerk zu schreiben.
Netzeitung: In Ihrem «Unruhestifter» haben Sie viele Persönlichkeiten der Zeitgeschichte beschrieben, und einmal schreiben Sie über einen «beißwütigen Literaturstalinisten», dessen Namen Sie aber nicht nennen. Dieser schlimme Mann, so steht da, hat 1986 einmal ein Buch Ihres Freundes und Schriftstellerkollegen Günter Grass fürchterlich verrissen. Als wir neulich miteinander telefonierten, um dieses Interview zu verabreden, konnten Sie sich an den Namen dieses Kollegen nicht erinnern.
Raddatz: Nein.
Netzeitung: Zufällig fällt mir der Name jetzt gerade ein, es handelt sich um Marcel Reich-Ranicki.
Raddatz: Ist mir gerade nicht geläufig.
Netzeitung: Was ist der Grund dafür, dass Sie Reich-Ranicki nicht in die illustre Liste der Persönlichkeiten, denen Sie in diesem Leben begegnet sind, aufgenommen haben? War es nicht so, dass es in den siebziger und achtziger Jahren zwei große Literaturkritiker gab, Raddatz und Reich-Ranicki, von denen der eine – grob gesagt – als links, der andere als konservativ galt. Der eine lobt Grass, der andere kritisiert ihn – da muss es doch irgendein Verhältnis geben?
Raddatz: So waren die Etiketten, aber es war eigentlich trotzdem kein beeindruckendes Verhältnis. Ich weiß, dass es diesen Mann gibt, und ich bin auch gar nicht voller Hass, und wenn wir uns sehen, machen wir einen Witz und geben uns die Hand. So ist es gar nicht, er hat mir zu irgendeinem runden Geburtstag ein entzückendes Telegramm geschickt, es ist also nicht so, dass wir uns gegenseitig mit dem Dolch im Gewande begegneten, aber wir sind uns, glaube ich, letzten Endes gegenseitig gleichgültig.
Ich bin ihm bestimmt genauso gleichgültig, außer dass er vielleicht mal was liest und sagt: Ist der denn nun vollkommen verrückt geworden, oder ich sage: Na, Mensch, so ein Stuss, und damit ist die Sache erledigt. Wir spielen einander in unserem Leben kaum eine Rolle.
Netzeitung: Die jungen Literaten – welches Verhältnis haben Sie zu denen?
Raddatz: Ich bin gut mit Wolf Wondratschek befreundet, ein anderer ist Kurt Drawert. Richtig befreundet bin ich mit Joachim Helfer, der jetzt in Berlin lebt und früher hier in Hamburg war – ein junger Suhrkampautor, dessen ersten Roman ich sehr positiv besprochen habe. Ich kenne Maxim Biller sehr gut. Ich will nicht sagen, dass wir befreundet sind, aber wir können gut miteinander, und ich habe mich sehr eingesetzt für sein Buch «Esra», habe noch eine Expertise für eine Gerichtssitzung gemacht.
Netzeitung: Wie sehen Sie solche Entwicklungen, dass mit einem Mal jeder Sportler seine Biografie schreibt, dass ein Dieter Bohlen ein solches Event wird, wie vor zwei Jahren – verfolgen Sie das?
Raddatz: Ich finde, dass da eine Schwemme von Mist den Markt verstopft. Es ist fast empörend. Ich verstehe, dass jeder Verleger einen Bestseller braucht und wenn er Glück hat, mehrere, aber wie man sieht, kommt man auch mit anderen Büchern über die Runden. Es muss nicht diese Torwartliteratur sein, dabei handelt es sich um Dreck.
Es ist schade, weil es den Platz und die Energie der Buchhändler aufbraucht – und weil dieser Mist auch den Neugierplatz besetzt. Dann kann natürlich ein Kurt Drawert nirgends mehr stehen, denn da steht ja immer schon ein Filmsternchen, das dafür berühmt ist, dass es berühmt ist. Zum Beispiel Rafik Schami. Da hat ein Mann zehn Jahre lang an einem Roman geschrieben, der eigentlich in aller Munde sein müsste – und ich hoffe, er wird ein Erfolg –, aber solche Bücher werden verdrängt.
Netzeitung: Gibt es etwas in Ihrer Autobiographie, von dem Sie heute, ein Jahr später, bereuen, dass Sie es geschrieben haben?
Raddatz: Nein, ich würde das Buch heute ganz genauso schreiben, es gibt keinen Satz, den ich weglassen würde.
Netzeitung: In den Rezensionen ist immer wieder ein Thema besprochen worden, nämlich, dass Sie mit Ihrer Stiefmutter...
Raddatz: ...geschlafen haben.
Netzeitung: Was hat die Leute so geschockt an dieser «Enthüllung»?
Raddatz: Ja, das hat mich wiederum sehr verblüfft, wenn man sieht, was überall zu sehen und zu lesen ist heute am Kiosk. Es gibt ja genügend berühmte Biographien. Virginia Woolf schildert übrigens ganz detailliert, wie sie von beiden Brüdern als Kind missbraucht wird, um mal eins zu nennen. Also ich habe hier eine ganze Liste liegen von solchen Fällen. Es sind jetzt autobiografische Notizen von Adorno erschienen, wo er eine wirklich üble Szene mit einer Prostituierten ganz genau beschreibt, und das wird hingenommen, und kein Mensch hat aufgeschrien und denkt jetzt etwa: Der Denker Adorno lässt sich ständig auspeitschen.
Derlei gibt es bei mir gar nicht, es ist ja alles eher von großer Behutsamkeit, dadurch vielleicht allerdings auch großer Intensität – also es hat mich verblüfft, ehrlich gesagt. Nach Erscheinen des Buches habe ich an die 25 Interviews gegeben, und alle haben quasi zuerst nach dieser Stelle gefragt, und die Bildzeitung hat es auf Seite eins gedruckt, obwohl der Name Raddatz einem Bildzeitungspublikum kaum bekannt sein dürfte. Ich würde die Stelle gleichwohl natürlich nicht rausnehmen. Denn: Das war doch Kindermord.
Netzeitung: Sie bereuen also nicht, diese Vergewaltigungsszene beschrieben zu haben?
Raddatz: Überhaupt nicht. Ich schreibe über mein Leben, und das ist ein ganz wichtiges Stück davon.
Netzeitung: Gehören Literatur und Macht zusammen, sind Literaten besonders anfällig für Despoten, für Ideologien?
Raddatz: Darauf gibt es wohl keine gültige Antwort, da all diese Menschen sehr individuelle Menschen sind. Jeder hat eine andere Seele, oder eine andere Gehirnwicklung und sowieso andere Begabungen, aber ich denke, dass es kaum einen anderen Beruf gibt, vielleicht noch den malenden Beruf, den darf man dazu nehmen, der so einsam ausgeführt wird. Sie sitzen Stunden, Tage, Wochen, Monate total einsam und monologisch in ihrem Kämmerlein.
Das ist ja bei keinem Theater der Fall, das ist bei keinem Dirigenten der Fall, das ist bei keiner Frau Mutter der Fall, die mit einem Orchester probt, also in keinem anderen künstlerischen Beruf, auch meistens nicht in anderen intellektuellen Berufen, weil der Herr Professor seine Schüler hat und seine Seminare und Examina abnimmt. Diese geradezu klösterliche Situation des Schreibenden ist wohl eine der Ursachen, dass man dann aus der Klosterzelle herausgreift nach einem Sonnenstrahl, und der kann heißen Mao, oder nach einem Hilfsanker, der kann heißen der liebe Gott – wie bei Claudel.
Das wechselt ja auch, und bei manchen war es, wie wir wissen, erst «Heil Hitler», und dann war es der Kommunismus und so weiter. Also das ist immer eine Krücke, wie ein Hilferuf, an dem man sich aus dieser Einsamkeit festhält, fast ein Blindenstab. Mein Freund Wunderlich hat ein Bild gemacht, damit meinte er die 68er, die das Volk ja auch führen wollten, aber der schöne junge Mann hat einen Blindenstab in der Hand, das heißt: sie sind selber blind oder hilflos und benutzen eine Krücke, und diese Krücke kann heißen Castro oder Stalin oder Pol Pot, weil Macht da ist oder Kraft.
Macht heißt ja auch Kraft, und deswegen hat das Ganze ja auch fast eine religiöse Komponente. Also, wen ich auch immer gefragt habe: Warum hast Du mit den Mächtigen zusammen getanzt, es kam per Saldo heraus: Aber ich habe «geglaubt». Oft kam auch das Wort: Es war meine Religion. Und da kommt man nicht weiter, da endet das Argument, da endet auch die Möglichkeit zu fragen.
Das ist im Moment meine Antwort auf diese Frage, warum sich die Literaten immer wieder mit Despoten verbinden, Sie sehen ja bei Benn, da war es dann der Elite-Gedanke, der ihn angezogen hat – und das kam auch aus der totalen Einsamkeit, zu der er sich verdonnert hatte, immer die Auster, die – wie man weiß – stirbt, wenn man sie öffnet. Also, wenn die Auster «Schriftsteller» sich öffnet, braucht sie oder will sie sehr oft die Krücke Hoffnung haben – oder Utopie oder Illusion, eine Außenmacht.
Mit Fritz J. Raddatz sprach Bettina Röhl. Sie hat für die Netzeitung bereits ein ausführliches Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki geführt.
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Kommentiert von: | 17. August 07 um 23:10 Uhr