Besuch in Danzig
für Cicero in Weltbühne 2004 erschienen
Die drei Häuser meiner Urgroßeltern, den Korbmachern Lene und Walter Neumann in Danzig
Der Lange Markt in Danzig 2004
Neptunbrunnen, Langer Markt Danzig
Ich bin zum ersten Mal in Danzig. Meine Großeltern lebten hier, mein Vater ging hier zur Schule. Dann kam der Zweite Weltkrieg, Danzig wurde zu Gdansk. Eine polnische Stadt mit deutscher Vergangenheit – und europäischer Zukunft.
Es ist mein erster Besuch in Polen. Kurz vor Stettin überquere ich die Grenze. Die ersten dreißig Kilometer Autobahn auf polnischer Seite sind reich an Schlaglöchern, es ist ungefähr so, wie man sich den wilden Osten vorgestellt hat. Hinter Stettin hört die Autobahn ganz auf und eine Landstraße beginnt, die 350 Kilometer bis nach Danzig durchgeht – immer entlang der Ostsee, die man ab und zu in der Ferne sieht.
Meine Großeltern kamen aus Danzig, mein Vater drückte hier noch bis zur zehnten Klasse die Schulbank. Meine Urgroßeltern bewohnten drei schmale Häuser mitten in der so genannten Rechtsstadt, der eigentlichen Altstadt. Sie hatten dort ein Korbgeschäft, das größte Westpreußens, wie es mein Urur-großvater auf einem Plakat beworben hatte. Die Neumanns durften sich sogar kaiserlicher Hoflieferant nennen, weil sie einmal dem deutschen Kronprinzen für dessen Badeurlaub Strandkörbe in das Seebad Zoppot geliefert hatten. In den zwanziger Jahren war meine Oma auf dem berühmten „Langen Markt“ entlangflaniert und hatte ihre ersten Tanzstundenabenteuer erlebt, von denen sie mir manchmal erzählte. Damals war der Lange Markt das Zentrum, wo sich die jungen Leute trafen, wo man flirtete, einkaufte, das Leben genoss. Danzig war für mich – wie wohl für die meisten meiner Generation – nicht besonders real, nicht sehr nah. Glücklicherweise haben meine Großeltern nie über den Verlust ihrer Heimat, den sie natürlich bedauerten, gejammert, sodass ich eigentlich ihre Erzählungen gar nicht in einen bestimmten Ort gelegt hatte, sondern von den Scherzen einer Tanzstunde oder dem Verkauf von Rattanmöbeln, Strandkörben und Kinderwagen erzählt bekam.
Die Bevölkerung Danzigs war damals zu 95 Prozent deutsch und zu fünf Prozent polnisch. Die Stadt lag mitten in Polen, was zu historisch gewachsenen, engen Beziehungen zwischen Stadt und Land geführt hatte. Dann kamen der Zweite Weltkrieg und schließlich die sowjetische Besatzung. Danzig war im Krieg von Zerstörungen aus der Luft verschont geblieben und wurde erst am Ende des Krieges durch Gefechte zu einem großen Teil zerstört. Dies betraf viel weniger die Außenbezirke, in denen die Mehrzahl der Einwohner Danzigs lebten, sondern vor allem die Rechtsstadt, die übrigens nicht so heißt, weil sie etwa rechts der Mottlau läge, sondern weil sie sich auf Lübecker Recht aus der Hansezeit gründet.
Die berühmte Frauengasse
Als ich gegen Mitternacht in Danzig ankomme, weht eine leichte von der Ostsee herkommende Brise und ich habe das Gefühl, es stimmt, was meine Großeltern sagten: Das Klima ist besonders leicht und angenehm. Auf Anhieb habe ich auch das Gefühl, es gibt den eigenen Geist der freien Hansestadt Danzig – damals, als die Stadt deutsch war, und heute in der polnischen Stadt Gdansk. Obwohl jeder weiß, dass die historische Rechtsstadt eine Rekonstruktion ist, eine hervorragende und liebevolle Rekonstruktion, habe ich spontan den Eindruck, in einer alten gewachsenen, sehr urbanen und lebendigen Großstadt angekommen zu sein. Überall sind Restaurants und Straßencafés, aus denen Musik zu hören ist, Touristen spazieren über den Platz, junge, polnische Leute und auffallend viele junge Paare genießen die sehr ruhige, aber auch sehr anregende Atmosphäre, die an einigen Stellen sogar etwas Flirrendes hat. Fast ein bisschen wie Budapest am baltischen Meer. Der Name der Straße: Dlugi Targ. Das war also der „Lange Markt“.
Am nächsten Morgen Punkt zehn Uhr wartet der Fremdenführer vor meinem Hotel. Herr Radtke ist ein zurückhaltender, älterer Herr. Er erklärt mir Danzig strategisch auf dem Stadtplan. Man erkennt sofort: Schon die historischen Planer der Stadt haben sich am Schachbrett orientiert. Die auf die Mottlau senkrecht zulaufenden Straßen enden an den berühmten so genannten Wassertoren, von denen besonders das Krantor und das grüne Tor (das Ende des Langen Marktes zur Wasserseite) bekannt sind.
Das Krantor, die Mottlau
Herr Radtke erläutert das Krantor, ein Bauwerk aus Holz, in dem Räder installiert waren, in deren Inneren Menschen liefen und so die Mechanik der Fallbrücken bewegten. Er zeigt mir das Zeughaus, in dem sich damals wie heute ein Kaufhaus befindet und in dem Oskar Matzerath seine berühmte Blechtrommel in dem gleichnamigen Roman von Günther Grass gekauft bekam. Wir sehen die Stadtmauer, die Marienkirche, die so genannten Beschläge, terrassenartige Eingänge vor den Patrizierhäusern, auf denen sich die im Angeben geübten Hanseaten dem vorübergehenden Volk bei festlichen Anlässen präsentierten. Ich erfahre kunsthistorische Details, die ich mit ungeübtem Auge nicht gesehen hätte – dabei geht es vor allem um den Wiederaufbau der historischen Stadt aus den Brandtrümmern.
Immer wieder bekomme ich deutsche Inschriften an den Fassaden gezeigt und erfahre, dass Danzig die polnische Stadt mit den meisten deutschen Inschriften an den Häusern und Kirchen und mit den meisten Adlern des Königreichs Polens sei. Dabei handelt es sich um steinerne Reliefs, die 1935 von der Hitlerjugend von den Fassaden abgeschlagen worden waren.
Wassertor mit Danziger Wappen
Straße in der Arthur Schopenhauers und seine Mutter Johanna lebte
Wir gehen vorbei am Haus von Schopenhauers Mutter und ich sehe auch den Platz, wo das Haus von Arthur Schopenhauer einst stand. An einer Stelle unseres Gespräches höre ich Schweigen. Als ich Herrn Radtke erzähle, dass meine Großeltern hier irgendwo in dem Häusergewirr der Rechtsstadt gewohnt hätten und ihn frage, ob er mir die Ulitschka Kramarska zeigen würde (die Große Krämergasse), bittet er mich, dass wir uns in das Café setzen, vor dem wir gerade stehen, direkt gegenüber dem berühmten Arthushof, eine Art Börse, wo sich früher vor allem die Kaufmannschaft traf. Wir unterhalten uns über die Figuren auf dem Dach, es sind Allegorien, für Gerechtigkeit, Gesundheit, Keuschheit.
Die vier Allegorien
Wir plaudern über das alte Rathaus, das von Grund auf neu gebaut wurde und natürlich über das Wahrzeichen der Stadt, die Marienkirche, die höchste Backsteinkirche der Welt, in der 25000 Besucher Platz finden sollen. Wir sind am Ende der Stadtführung, da fährt mein Blick auf ein Straßenschild zwischen Arthushof und Rathaus: Ich lese Kramarska. Ich hatte also mit Herrn Radtke die ganze Zeit vor den drei Häusern gesessen, wo meine Großeltern einst lebten.
Ul. Kramarska, alte Krämergasse
Am Nachmittag treffe ich Dariusz Michalczewski, den wohl berühmtesten Polen nach dem Papst, Lech Walesa und Präsident Kwasniewski. Er begrüßt mich freundlich in seinem „Tiger Gym“ im nagelneu eröffneten Einkaufszentrum „Manhattan“.
Dariusz Michalczewski und ich
Wir setzen uns an die Bar seines Fitnessstudios, wo ich den Tiger-Energie-Drink genieße, der mich die Anstrengung der langen Fahrt endgültig vergessen lässt. Michalczewski erzählt mir: „Heute sind die Leute in Danzig verändert. Sie sind neidischer, gieriger. Früher hatten alle gleich wenig, heute hat einer zwölf Autos, der andere hat nicht mal ein Fahrrad. Die EU ist eine große Zukunft für junge Menschen. Diejenigen aber, die für die Freiheit und Solidarnosc gekämpft haben, haben größte Schwierigkeiten. Sie sind jetzt alt. Sie können nicht mit Computern umgehen, sie kriegen kaum Rente, sie haben nichts. Sie hätten etwas anderes verdient. Natürlich haben wir heute andere Möglichkeiten: Polen ist jetzt ein freier Staat, ein freies Land.“
Zu dem Konflikt Deutschland-Polen sagt Michalczewski nur kurz und knapp: „Ich bin hier geboren, deswegen bin ich Danziger. Und jetzt bin ich mittler-weile schon sehr lange in Hamburg und fühle mich auch als Hamburger.Heute gehört Danzig zu Polen, früher war es deutsch. Aber das alles interessiert mich nicht so sehr. Geschichte ist schön, man muss sie kennen, heute sind wir alle Europa, das ist, was zählt.“
Am Abend bin ich auf ein Open-Air-Konzert eingeladen. Kaya tritt auf, eine Sängerin aus Warschau. Frau Kusmierske, die Kulturbeauftragte der Stadt Danzig, ist die Veranstalterin. Sie nimmt mich backstage an die Hand, führt mich herum und erläutert: „Im Sommer haben wir jede Woche bei jedem Wetter ein gut besuchtes Open-Air-Konzert, vorwiegend mit polnischer Pop-Musik, aber wir haben auch ausländische Gäste. Dariusz Michalczewski hatte den Kontakt zu Klaus Meine und dann sind hier die Scorpions aufgetreten. Dieser Veranstaltungsplatz ist übrigens das Gelände, wo früher die Kommunisten ihre großen Kundgebungen und Aufmärsche gemacht haben.“
Am nächsten Morgen fühle ich mich in Danzig schon regelrecht zu Hause. Während ich auf der Hotelterrasse direkt an der Mottlau frühstücke, sehe ich die beiden Fähren an- und ablegen, die im Halbstundentakt meist ziemlich voll beladen die Touristen zur Westerplatte bringen, eine schlichte weiße Fähre und eine auf Nostalgie getrimmte Kogge, die bei den Touristen besonders beliebt ist.
Auch ich mache an diesem Tag die Tour. Man fährt ganz in Ruhe die Mottlau abwärts an der stillgelegten Leninwerft vorbei, die heute gern als Filmkulisse verwendet wird, und kann vom Wasser aus den Ort besichtigen, an dem der Zweite Weltkrieg seinen Anfang nahm. Die Touristen fotografieren das Denkmal, das dort errichtet wurde, im Vorbeifahren.
Auf der Terrasse des Hotels sitze ich später Olo Walicki und seiner Schwester gegenüber. Olo Walicki ist ein bekannter Danziger Jazzmusiker. Seine Schwester, die jahrelang in Bremen gelebt und dort in einem Orchester Geige gespielt hat, macht die Übersetzung. Sie spricht sehr gut Deutsch. Die Geschwister sind hier in der Rechtsstadt aufgewachsen, nur hundert Meter von dem Haus meiner Oma entfernt. Ihre Eltern sind Künstler, ihre Mutter ist eine polnische Vertriebene aus Vilnius, heute Vilna in Litauen. Vor mir sitzen also zwei waschechte Gdansker, die also am selben Ort groß wurden wie meine Oma, allerdings siebzig Jahre später. Und ich erkenne, dass Olo Walicki dieselbe Stadt jetzt auf eine ähnliche Art anschwärmt und doch ist es eine neue Welt, in der es sich trotz aller wirtschaftlichen Probleme wunderbar leben lässt. Olo Walicki war vierzehn Jahre alt, als 1989 die Mauer fiel, genau in dieser Zeit schloss er sich in Danzig einigen Avantgardisten der Jazzmusik an: „Wir spielten jeden Abend auf einem Boot, das hier auf der Mottlau lag, es hieß Yellowship. Von dem Mauerfall in Berlin hatten wir nicht so viel mitbekommen. Wir spürten die Auswirkung hier erst allmählich. Seit dem Zusammenbruch lag ein neues Feeling in der Luft, in der Kommunistischen Zeit war Jazz nicht gern gesehen und jetzt spielten wir uns sozusagen in die neue Zeit.“
Olo Walicki
Später schaue ich mir die Philharmonie an. „Es ist allerdings noch ein Konzertsaal im Bau“, betont Herr Andrzej Orzel mehrfach, der stellvertretender Direktor der Philharmonie, während wir das Haus besichtigen. Es ist ein zweckmäßiger, schöner Bau, der auf angenehme Art vermeidet zu protzen. „Der Bedarf für einen Konzertsaal ist so groß, dass wir schon während der Fertigstellungszeiten angefangen haben ihn zu vermieten und schon Termine für das Jahr 2006 machen.“
Herr Orzel, Leiter im großen Konzertsaal im Bau
Als Herr Orzel gegangen ist, unterhalte ich mich noch mit Herrn Doniewski, der das Gespräch übersetzt hatte. Er erzählt mir, dass er während der Kriegszeit als Pole eine deutsche Schule besuchte und das dies seine Rettung vor den Deutschen war. Er erzählt mir, dass er seit 75 Jahren in Danzig lebt: „Ich habe die deutsche Besatzung erlebt und ich habe die russische Besatzung erlebt. Vierzig Jahre haben wir in den Medien in Polen eingetrichtert bekommen, dass die Deutschen Monster sind und Danzig eine tausendjährige polnische Tradition hat, aber die allermeisten Polen kommen sehr gut mit den Deutschen zurecht und wollen wirtschaftlichen Austausch.“
In Danzig ist man, dies wird, wenn man durch die Vororte von Danzig fährt, klar, sehr arm – viel ärmer als in der ehemaligen DDR. Und trotzdem ist Polen im Kapitalismus und im Westen irgendwie ganz selbstverständlich angekommen. Und zwar dort, wo es in Deutschland oft hakt: in den Köpfen. Ostalgie gibt es nicht. Das Wort wird nicht einmal verstanden. Die Kommunismusablehnung ist fast durchgängig. Man identifiziert sich zwar allerorten mit der Solidarnosc-Bewegung, aber selbst die ist Vergangenheit. Lech Walesa? Gut und schön, er hatte zu Recht seinen Nobelpreis, aber jetzt geht es nicht mehr um ihn und um damals, sondern ums Heute und darum, den Anschluss an die EU zu finden. Und in diesem Zusammenhang habe ich öfter den Scherz gehört: Hätten wir doch einen Bruder im Westen wie die frühere DDR die Bundesrepublik!
Als ich ein letztes Mal durch die Rechtsstadt gehe, erkenne ich noch besser die Akribie und den finanziellen Aufwand – für den es aus der Bundesrepublik Unterstützung gab –, mit dem die heutigen Danziger den historischen Stadtkern wieder hergerichtet haben. Wie sie ihn hegen und pflegen, und dies nicht nur materiell, sondern auch ideell in der Wertschätzung und Identifikation. Dann glaube ich zu verstehen, was Bürgermeister Adamowicz mir erzählt hat, dass tatsächlich so etwas wie eine Sehnsucht existiert, dass sich die Danziger die Stadt, die sie von den früheren deutschen Bewohnern übernommen haben, außer dass sie sie als Kriegsfolge zugesprochen bekommen haben, auch zusätzlich noch einmal durch eigenen Aufbau quasi erwerben wollten. Das ist auf jeden Fall gelungen. Danzig ist heute eine Perle an der Ostsee. Danzig ist eine Reise wert.
Ich danke dir für die schöne geschichte. Ich bin ein danziger geboren am 1973 jahr(mit deutsche vorfahrene) Mein opa war 30 wenn hat die polnische sprache gelernt, ich bin jetzt 30 und lerne deutsch( zu zeit wohne ich in deutschland (murnau bayern).
Ich verstehe sehr gut gefüle deine groseltern. Ich wohne in murnau erst zeit 3 jahren und wenn ich solche geschichte über danzig lesse dann trenen fliesen selbst.
Nochmal danke dir.
Grüsse aus murnau
Kommentiert von: Rafael Swieczkowski | 26. April 07 um 13:10 Uhr
Kommentiert von: | 05. September 07 um 19:36 Uhr
Toll ,bin aus Danzig Jahrgang 1935
Kommentiert von: Hans Roll | 11. Februar 14 um 02:04 Uhr
Wir "haben "am rauschenden Wasser" gewohnt
Kommentiert von: Hans Roll | 11. Februar 14 um 02:06 Uhr