von Bettina Röhl Aus: Mainstreamreport bei Welt online 2.6.08
Die Causa Gysi wird zwar aktuell hoch gehandelt, ihre singuläre und essentielle Bedeutung für die Bundesrepublik wird jedoch immer noch unterschätzt. Nicht die Telekom hätte auf den heutigen Spiegel-Titel gehört, sondern Gregor Gysi. Der Fall Gysi und dessen Behandlung hat Signalwirkung, stellt Weichen in dem sich anbahnenden Lagerwahlkampf, in dem die SED-Nachfolger vor allem sympathische und verkäufliche Galionsfiguren brauchen. Der wissenschaftliche Sozialismus lebte immer von Idolen und Halbgöttern, die man braucht, um das theoretische und praktische Versagen des Kommunismus und der Kommunisten zu übertönen.
Vor knapp 20 Jahren sprang die SED-Allzweckwaffe Gregor Gysi im Zuge der Wiedervereinigung wie ein Deus ex macchina über Nacht auf die politische Bühne der Bundesrepublik. Seitdem gibt es immer wieder Stasiverdachtsmomente gegen den Ex-DDR-Anwalt, der sich allerdings stets aus der Affäre zog. Doch das arme Unschuldslamm, dem irgendwelche finsteren Mächte aus dem bösen Kapital seit der Wiedervereinigung immer wieder ans Fell wollten, ist der professionelle Politclown der SED/PDS/Linkspartei nicht. Gysi scheint ein Kommu-Engel zu sein, mit Teflon an seinen Flügeln, ein überaus sympathischer witziger Schlingel mit den flottesten Politikersprüchen, in die die Talkshowmacher verknallt sind.
Doch in dem aktuellen Fall Gysi reichen dessen Unschuldsbeteuerungen nicht mehr, sondern es kommt auf die Plausibilitäten an und unplausibel sind die jetzt diskutierten Stasi-Verdachtsmomente gegen Gysi nun wirklich nicht. Im Strafrecht gilt die Unschuldsvermutung, die bis zum bitteren Ende gilt, im Zivilrecht dagegen gibt es eine Beweislastumkehr nach dem Prinzip des ersten Anscheines. Prima facie spricht genügend gegen Gysi. Und diese Beweislastumkehr muss Gysi auch im politischen Kontext gegen sich gelten lassen. Jetzt stellt sich die Frage: ist bei den Zweifeln, die die neuen Dokumente der Birthler-Behörde zu Gysis Lasten wecken, Gysi unter moralischen Kategorien als Politiker, als Parlamentarier, als ein von diesem Staat alimentierter Meinungsmacher und Multiplikator und als selbsternannter Chefankläger gegen das politische und wirtschaftliche System der Bundesrepublik und des Westens insgesamt tragbar. Diese Frage wird hier mit einem klaren und kühlen Nein beantwortet. Gysi ist untragbar. Und daran ändern auch frenetische und propagandistische Hymnen auf ihn, die in den Medien jüngst zu lesen waren, nichts. Es gibt auch keine juristische, moralische oder faktische Privilegierung zu Gunsten Gysis. Er allein muss nachweisen, dass sein Verhalten in der DDR und auch hernach in der PDS „sauber“ gewesen ist. Und selbst wenn er nur ein nützlicher Idiot für Honecker und Havemann gewesen sein sollte, müsste Gysi sich den belastenden Fakten aus der Birthler-Behörde stellen. Offen und logisch argumentativ. Das mag Gysi auch selber so empfunden haben, als er seinen Sechs-Minuten-Selbstverteidigungsspeach am 28.Mai 2008 im Bundestag abgab. Doch statt sich moralisch zu exkulpieren, hat sich Gysi mit seinen Belehrungen über die DDR im Allgemeinen und seiner eigenen Person im Speziellen um Kopf und Kragen geredet.
Die DDR sei, so erfahren wir nun von ihm (der vieles Widersprüchliches über die DDR zu sagen weiß) kein Rechtsstaat gewesen. Tatsächlich war die DDR ein Unrechtsstaat und es ist eine geradezu perverse Farce, dass man dieser Tage stets über die Exempel der nach Strich und Faden höchst privilegierten so genannten Dissidenten Robert Havemann und Rudolf Bahro schwadroniert. Der Unrechtsstaat DDR zeigte sich bei der quälerischen Behandlung von namenlosen politischen Gegnern in Bautzen und anderswo, die nicht, wie die berühmten Dissidenten im „Spiegel“ oder sonst wo im Westen veröffentlichen konnten und mit der Nomen Klatura darüber verhandelten, wie weit sie mit DDR-Kritik überhaupt gehen durften und was ihnen nachzusehen sei. Vergleichbare Privilegien genossen diejenigen, die mit ihrem Leben oder ihrer persönlichen Freiheit und Existenz ihre Ablehnung des DDR-Regimes bezahlten, nicht.
Es ist menschenverachtend, wie der Schwarze Kanal des Eduard von Schnitzler dieser Tage zum Beispiel im Neuen Deutschland revitalisiert wird, wo ein Jürgen Elsässer die Tatsachen nach altbewährter Masche auf den Kopf stellt. Die Relativierung von Stalins Schauprozessen gehört ebenso ins Repertoire wie die Anklage der westlichen Demokratie und der berühmte Ellerbeker Rundschlag gegen den Westen und den Kapitalismus. Die dortige Behauptung, dass der von den Medien im Westen gehätschelte und geknutschte Gregor Gysi das Opfer einer öffentlichen medialen und politischen Hetzjagd sei und dass sich die Beurteilung einer möglichen Täterschaft von Gysi quasi naturgesetzlich verböte und dass hier Halluzinationen („halluzinierte Stasikontakte“) eines bösen demokratischen Westens gegen einen allemal moralisch überlegenen kommunistisch-diktatorischen Osten, der nicht untergehen will, die Diskussion dominierten, ist eine ziemlich armselige Nummer aus alter Propagandaschule. Man ist geneigt zu sagen, na gut, Neues Deutschland, das ist vielleicht nicht so wichtig. Das stimmt aber dann nicht, wenn sich die ideologisch-verblendete Ignoranz der Fakten und deren sozialistisch-verkitschte Manipulation auch in urwestlichen Leitmedien wie der ZEIT wieder finden oder auch in der Süddeutschen, die sofort nach Lafontaines Rede auf dem Cottbusser Parteitag mit dem Kreuz in der Hand einen unmoralisch anstößigen „Antikommunismus“ hinter jedem Busch vermutete. Für wahr: alle Medien hetzen Gysi und die Linkspartei, wie das Neue Deutschland halluziniert.
Gysi ist seit zwanzig Jahren eine der die Gesellschaft gestaltenden Personen. Das Thema kann also gar nicht hoch genug aufgehängt werden, da nämlich die bürgerlichen Kräfte dieses Mal in einen Lagerkampf hineinrasen, dem sie argumentativ und handwerklich nicht gewachsen sind. Gysi ist Teil des bundesdeutschen Medienestablishments, er ist der wichtigste Kopf der Linkspartei, er ist der Testamentsvollstrecker der SED und er ist der „Es war nicht alles gut“- Redner der SED. Gysi gehört zu den oberen 10 000 Gesamtdeutschlands. Er führt die bundesrepublikanische Gesellschaft lustvoll an der Nase herum und er hetzt und peitscht, gelegentlich höchst erfolgreich, konservative Demokraten vor sich her. Er moralisiert die westlichen Demokratien herab und erzeugt immer wieder Spannungen, die einen Heiligenschein um die drei Buchstaben DDR herum zum Leuchten bringen.
Gysi macht nicht Ostalgie, die nutzt er lediglich aus. Er betreibt eine höchst amüsante Geschichtsklitterung zu Gunsten der DDR und zu Lasten der Bundesrepublik. Gysi lenkt von den alles entscheidenden Tatsachen ab und fast alle rutschen auf seiner geistigen Schleimspur aus: Der gelernte Facharbeiter für Rinderzucht Gysi weiß eben, wie man eine Herde von Hornochsen bis zur Selbstvernichtung in eine Richtung jagen kann.
Zurück zu seiner Bundestagsrede: Gysi hat uns belehrt, dass es keine Gewaltenteilung in der DDR gab, dass die Justiz gleichgeschaltet war. Der Anwalt, der kraft Gesetzes Organ der Rechtspflege ist, war in der DDR, wenn’s drauf ankam, gleich geschaltet und nolens volens Teil des Unrechtssystems. Gysi selber, Spross der feudalen hauchdünnen Upperclass der DDR, durfte Jura studieren: Jus nicht in unserem westlichen Sinn, sondern im sozialistischen Sinn. Dort gab es de facto kein Zivil-und Handelsrecht (von ein bisschen Familien- und Erbrecht abgesehen) und kein Verfassungsrecht. Und insgesamt war Jura etwas qualitativ anderes, als in der BRD. Gysi war ca. dreißig Jahre alt, als sich die gleichschaltete Justiz und die Staatsführung entschlossen den Jung-Anwalt - allzu viele Anwälte gab es pro Kopf der Bevölkerung gesehen in der DDR ja auch mangels Bedarf nicht – damit zu beauftragen, die Verteidigung prominenter SED-Widerborste zu übernehmen. Eine solche „Vertretung“ hat trotz identischen Begriffs nichts mit anwaltlicher Vertretung in einem demokratischen Rechtsstaat zu tun. Das Wort „Vertretung“ ist hier eine sinnverkehrende Irreführung; ein Anwalt vertritt einen Mandanten hierzulande gegen den Staat und er vertritt nicht die Interessen des Staates gegenüber einem politisch missliebigen so genannten Mandanten. Gysi hatte also vom SED-Staat den Auftrag den ohnehin von der Stasi (also vom SED-Einheitsstaat) beobachteten Havemann, den dieser Einheitsstaat gerade nicht über ein bestimmtes Maß hinaus traktieren wollte, im Rahmen eines anwaltlichen Scheinverhältnisses zu konditionieren. Gysi war nicht, wie er meint, der Bote Havemanns und auch nicht im Wortsinn der „Verteidiger“ von Havemann, sondern er war der Bote des Staatsapparates und der Regierung. Deswegen ist es auch geradezu makaberer Unsinn, wenn Gysi jetzt behauptet, er habe, gar mittels anwaltlicher und persönlicher Überzeugungskunst, Havemann vor aller möglichen Unbill gerettet. Es war sein Auftrag Havemann mit Privilegien zu ködern, um ihn der SED gefügig zu machen.
Der dreißigjährige Gysi hatte gar keine Möglichkeit sich anwaltlich zu profilieren und über diesen Weg berühmte Mandanten zu akquirieren, sondern umgekehrt: er war privilegiert, man kannte sich. Kein freier Anwalt konnte, wie Gysi es jetzt darstellt, wenn er für jemanden, der dem dortigen Staat nicht passte, etwas herausholen wollte, die dortige Justiz ignorieren und Erich Honecker als oberstem Chef der Partei, des Staates, der Stasi, der Justiz, von Bautzen und des Schießbefehls, locker anrufen und sagen: Hallo Erich, lass uns die Sache Havemann mal eben auskungeln. Gysi war derartig überprivilegiert in der DDR, dass die richtige Lesart eher heißen müsste, dass er nicht mit der gleichgeschalteten Stasi, sondern lieber gleich mit den Chefs von Mielke direkt sprach. So gesehen war Gysi vielleicht nicht IM der Stasi (das möglicherweise nebenbei auch noch), sondern er war ein UM, ein Unoffizieller Mitarbeiter der Partei- und Staatsführung der DDR. Gegen einen solchen Top-UM sind IMs natürlich kleine Fische. Gysi ist zu Recht beleidigt: das untere Spießertum der kleinen und großen IMs war nicht sein Ding. Da stand er drüber. Dass manches in den Stasiakten landete und manches davon die hastigen Säuberungen von 1989 überdauerte, kann Gysi kaum zum Beweise des Gegenteils dessen, was in den Akten selber steht, heran ziehen.
Seine Einlassung, dass ihn die Stasi 1980 nicht hätte zu examinieren brauchen, wenn er schon im Jahr zuvor oder Jahre früher Erkenntnisse abgeliefert hätte, ist ein wenig pubertär und pennälerhaft. Der Staatsapparat der DDR war derart paranoid und die Stasi trieb die Paranoia auf die Spitze, so dass permanente Überprüfung von Jedermann mit immer wieder neuen bürokratischen Einschätzungen, eben wohl auch von Gysi, der Normalfall waren. Vielleicht wussten die unteren Chargen der Stasi auch nichts von Gysis regierungsamtlicher Tätigkeit, mit der Gysi jetzt selber verschmitzt und oberwitzig und zugleich in Opfermanier auftrumpft. Im Übrigen gibt es eine Erklärung aus der Birthlerbehörde, dergemäß es 1980 eine neue Richtlinie gab, die es erforderlich machte einen neuen so genannten Vorlauf für IMs anzulegen. Ein peinlicher Fauxpas, den Gysi sich da im Bundestag geleistet hat.
Gysi hätte die Vertretung seiner eigenen Person besser einem anderen übertragen und sich selbst zurück gehalten. Es geht in seinem Fall nicht um eine Autofahrt mit einem Herrn Erwin, das ist nur der Anlass. Das komplette System Gysi und zwar des früheren Ost-Gysi sowie des heutigen West-Gysi steht auf dem Prüfstand. Einerseits selber zur tragenden Säule der eigenen Entlastung den Unrechtsstaat DDR ins Feld führen und andererseits darauf zu hoffen, dass man mit dem fälschlich verwendeten Vokabular (Anwalt, Verteidiger, Mandant usw.) die rechtstaatlichen demokratischen Assoziationen der Mehrheit der Bevölkerung zur Vernebelung des Falles missbrauchen kann, macht verdächtig und entlastet mitnichten. Gysis Verteidigungstaktik besteht aus den typischen Denk-und Propagandaschemen und Doktrinen, mit denen die Kommunisten trotz weltweiten Versagens über 150 Jahre die ihnen gebührende Anklage immer wieder erfolgreich an ihren politischen Gegner abdelegieren.
Übrigens wird viel zu sehr darauf abgehoben, ob Gysi Havemann oder Bahro schadete, denen die DDR-Führung, wie gesagt, selber gar nicht über ein bestimmtes Maß hinausgehend zu schaden die Absicht hatte. Im Gegenteil, die konnten und sollten sich wichtig fühlen, in dem ihnen die Machtzentrale den „Postboten“ Gysi schickte. Das Hauptmoment der neuen Causa Gysi besteht darin, ob die heutige Führungsfigur der Linken mit Namen Gysi seine persönliche linke und mediale Hausmacht auf eine regierungsamtliche Karriere in der DDR zurück zu führen hat. In jedem Falle ist es wohl nicht übertrieben zu sagen, dass Gysi von seiner wie auch immer gearteten DDR-Tätigkeit, von seiner damaligen Rolle und seinem Leben in der DDR, anhaltend traumatisiert ist. Gysi ist alles, nur nicht distanziert und souverän, was seine eigene Person und Vergangenheit anbelangt. Seine erschütternde und feige und gleichwohl eitle Rede im Bundestag, wo er erstmalig mit seiner jugendlichen Führungsrolle im DDR-Staat regelrecht angegeben hat, zeigt, dass er weniger als die meisten seiner Mitbürger aus der Ex-DDR und weniger als seine Sprüche es vermuten lassen, noch lange nicht in der Bundesrepublik angekommen ist. Kein Wunder, er lebt ja auch weiterhin in dem Retromilieu der PDS. Manche Medien haben seine Cottbusser Floskel, „vereinigt sind wir noch nicht“, völlig überhöht und diametral falsch interpretiert. Es ist Gysi, der über sich selber unwillkürlich spricht und ausdrückt, dass er die Wiedervereinigung noch immer nicht begriffen hat.
Gysi kann und will nicht regieren, sein kurzer Ausflug in die Berliner Politik als dortiger Wirtschaftssenator, hat er 2002 kläglich selbst beendet. Man konnte den Eindruck haben, dass ihm seine Flugmeilen-Bonus-Affäre wie eine Erlösung zuflog, so konnte er ohne Sachbegründung, auch noch mit moralischer Selbstgeißelung selber den Abflug aus dem Amte machen. Gysi scheint einer der verkanntesten Politiker der Republik zu sein: das ist die Macht seiner so genannten flotten Sprüche. Hat sich Gysi jetzt selbst umzingelt? 20 Jahre tanzte er wie ein Rumpelstilzchen auf der Nase der Wessis und Ossis herum und lachte sich ins Fäustchen. Doch jetzt scheint er an der ihm moralisch und politisch obliegenden Beweislast zu scheitern. Er hat nach allem eine Bringeschuld, aber er bringt nur ein neunmal schlaues Lamenti.
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