literaturkritik.de » Nr. 5, Mai 2004
Antisemitismus und Literatur
Ein Interview mit Marcel Reich-Ranicki
Von Bettina Röhl
Warum wollen Sie ein Interview mit mir machen, fragte Marcel Reich-Ranicki im Dezember 2003, als ich ihn anrief. Der Anlass, ihn um ein Gespräch zu bitten, war ein Interview in der "Welt" vom 13.12.03, in dem er unter anderem über die bis vor kurzem verborgene Mitgliedschaft seines langjährigen engen Freundes Walter Jens in der NSDAP gesprochen hatte.
MRR hatte in diesem Interview das dritte Mal, wie auch schon zuvor in seinem 1999 erschienenen Buch "Mein Leben" und in dem im Herbst 2003 erschienenen Hörbuch "Ulrike Meinhof", über seine Begegnung mit der jungen Journalistin Meinhof gesprochen, die nach seiner Rückkunft aus Polen 1958 die erste Person in der Bundesrepublik gewesen sei, die ihn Anfang der sechziger Jahre nach seiner Zeit im Warschauer Getto gefragt und nach dem Interview Tränen in ihren Augen gehabt habe.
"Was wollen Sie von mir wissen", fragte Reich-Ranicki mich am Telefon wiederholt: "Ich werde Ihnen nichts erzählen können, was Sie interessiert. Über Ihre Eltern weiß ich sonst gar nichts. Für Politik interessiere ich mich nicht. Ich habe in den ganzen Jahren, in denen ich Literaturkritiker bei der FAZ war, von 1973 bis 1989, dort sehr selten den politischen Leitartikel gelesen. Glauben Sie mir, Sie werden enttäuscht sein. Ich kann Ihnen auch über '68 nichts erzählen, falls Sie dies wünschen. Sie werden mir Fragen stellen und ich werde das ganze Interview lang schweigend vor dem Mikrofon sitzen. Aber bitte, wenn Sie unbedingt wollen, kommen Sie, ich kann Sie nicht daran hindern."